Eigenbedarfskündigung vs. Härtefall – BGH verlangt Sachverständigengutachten

Real Estate Praxistipp zu BGH, Urt. v. 22.05.2019, Az. VIII ZR 180/18 und 167/17

Kündigt der Wohnungseigentümer das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs und wendet der Mieter dagegen ein, dies stelle für ihn eine unzumutbare Härte dar, müssen die Gerichte sehr genau ergründen, wessen Interessen im Einzelfall überwiegen. Mit zwei Urteilen vom 22.05.2019 hat der BGH seine Rechtsprechung hierzu präzisiert.

Allgemeine Fallgruppen, in denen generell die Interessen des Vermieters oder die des Mieters überwiegen, dürfen nicht gebildet werden. Vielmehr kommt es immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an, die aber häufig nur durch ein Sachverständigengutachten ausreichend gründlich festgestellt werden können. Schematische Abgrenzungen – etwa nach dem Alter des Mieters oder nach der Dauer des Mietverhältnisses – sind nicht ausreichend. Und der Vermieter ist nicht allein deshalb weniger schutzwürdig, weil er die Wohnung vermietet erworben hat.

Die Fälle:

Im Verfahren Az. VIII ZR 180/18 bewohnt die 82-jährige Mieterin seit 1974 eine ca. 73 m² große Dreizimmerwohnung gemeinsam mit ihren beiden über 50 Jahre alten Söhnen. Der Eigentümer der Wohnung wohnt bisher mit seiner Ehefrau und zwei Kleinkindern zur Miete in einer 57 m² großen Zweizimmerwohnung. Um dies zu ändern, hatte er im Jahr 2015 die Wohnung erworben und wollte dort einziehen. Seiner Eigenbedarfs­kündigung widerspricht die Mieterin jedoch mit dem Argument, ihr sei ein Umzug aufgrund ihres Alters, ihrer Verwurzelung in der Umgebung aufgrund der langen Mietdauer sowie einer fortschreitenden Demenzerkrankung, die sich durch den Umzug zu verschlechtern drohe, nicht zumutbar.

Im Verfahren Az. VIII ZR 167/17 bewohnen die Mieter seit 2006 eine Doppelhaushälfte. Mit ihnen wohnt dort der volljährige Sohn der Mieterin sowie der kranke Bruder des Mieters. Im Jahr 2015 kündigt der Eigentümer das Mietverhältnis mit der Begründung, seine geschiedene Ehefrau wolle dort einziehen, um ihre in der Nähe lebende Großmutter betreuen zu können. Dieser Kündigung widersprechen die Mieter u.a. mit Hinweis auf die Erkrankung des Bruders, der in Pflegestufe II eingruppiert ist und unter erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz leidet. Diese werde durch einen erzwungenen Umzug noch verschlimmert.

Die Vorinstanzen hatten im ersten Verfahren eine unzumutbare Härte bejaht und die Räumungsklage abgewiesen; im zweiten Verfahren dagegen eine Härte abgelehnt, da angesichts der vorgetragenen Erkrankungen ein Umzug nicht als schwerwiegende Beeinträchtigung anzusehen sei, und der Räumungsklage stattgegeben. Beide Urteile hob der BGH wieder auf und verwies die Verfahren zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an die Vorinstanzen zurück.

Dabei betont der BGH Folgendes:
  • Macht ein Mieter geltend, eine Eigenbedarfskündigung stelle eine unzumutbare Härte für ihn dar, muss das Gericht den Sachverhalt im jeweiligen Einzelfall konkret und sehr genau feststellen. Denn sowohl auf Seiten des Vermieters als des Mieters stehen sich grundrechtlich geschützte Belange gegenüber (Eigentum, Gesundheit). Daher ist besonders sorgfältig abzuwägen, wessen Interessen im Einzelfall überwiegen.

  • Allgemeine Fallgruppen, in denen generell die Interessen der einen oder der anderen Partei überwiegen – etwa bei einem hohen Alter des Mieters oder einer langen Dauer des Mietverhältnisses – lassen sich nach Auffassung des BGH nicht bilden. Dies sahen manche Oberlandesgerichte bisher anders.

  • Der BGH präzisiert insofern weiter: Die Faktoren Alter und lange Mietdauer mit einer damit einhergehenden tiefen Verwurzelung des Mieters im bisherigen Umfeld wirken sich je nach Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung des Mieters unterschiedlich stark aus und rechtfertigen deshalb nicht per se die Annahme einer unzumutbaren Härte. Vielmehr müssen die sich daraus ergebenden Folgen konkret festgestellt werden. Insbesondere zu Gesundheitsfragen müssen sich die Gerichte bei mangelnder eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur oberflächliches Bild davon verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen ein Umzug hätte. Dabei ist insbesondere der voraussichtliche Schweregrad der zu erwartenden Gesundheitsbeeinträchtigung und dessen Wahrscheinlichkeit festzustellen.

  • Ein solches Sachverständigengutachten muss das Gericht regelmäßig von Amts wegen einholen, wenn der Mieter eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes vorträgt und dies durch ein ärztliches Attest belegt. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, ob und wie mögliche Folgen durch Unterstützung aus dem Umfeld oder durch begleitende therapeutische Hilfe gemindert werden können.

  • Ebenso wenig darf dem Eigenbedarfsinteresse des Wohnungseigentümers allein deshalb ein geringeres Gewicht beigemessen werden, weil er eine vermietete Wohnung erworben hat. Eine solche Sichtweise, zu der ebenfalls einige Oberlandes­gerichte tendieren, bezeichnet der BGH als rechtsfehlerhaft.

PSP-Praxistipp:

Zwar sind die Urteile des BGH nachvollziehbar und – rechtlich betrachtet – wohl auch zutreffend: Die Beurteilung, ob ein unzumutbarer Härtefall i.S.v. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorliegt, muss stets eine Einzelfallentscheidung sein, die nicht anhand schematischer Faktoren getroffen werden kann. Dies folgt bereits aus dem subjektiven Element der „Unzumutbarkeit“ eines Wohnungswechsels, das bei jedem Mieter anders gelagert ist. Jedoch führt die vom BGH geforderte weitere Intensivierung der Sachverhaltsaufklärung durch Einholung von Sachverständigengutachten (von Amts wegen!) zwangsläufig auch zu weiteren Verlängerungen der ohnehin bereits oft unzumutbar langen Verfahrensdauer, insbesondere, wenn es über mehrere Instanzen geht.

Ob das wirklich in jedem Verfahren notwendig ist, sei dahingestellt. Im Sinne der Verfahrensbeschleunigung und zur alsbaldigen Herstellung von Rechtssicherheit ist nach den Urteilen des BGH aber nun auch dem Vermieter zu raten, im Räumungsprozess bereits in der ersten Instanz ein Sachverständigengutachten zu verlangen, wenn der Mieter aufgrund gesundheitlicher Probleme eine unzumutbare Härte geltend macht. Anderenfalls droht ein weiterer Verfahrensmarathon mit ungewissem Ende, während dessen eine Eigennutzung der Wohnung ausgeschlossen bleibt. Immerhin: Allein aufgrund der Tatsache, dass die Wohnung bereits vermietet war, als sie der Eigentümer erwarb, ergibt sich für ihn keine Benachteiligung bei der Interessenabwägung.